Von der Kunst zu wissen, wann wir maßlos, ungerecht oder leblos sind
Jenseits der Grenze Cartoon © beck/ews
Wir wissen, wann in unserem Leben etwas richtig schief läuft, wann wir von der Bahn abkommen. Nicht bewusst, oft auch nicht so, dass wir es direkt sagen könnten. Aber wir ahnen es. Und es ist wichtig, davon miteinander zu sprechen.
Es gibt dazu eine Geschichte, die mich seit meiner Jugend begleitet.
Vor mehr als 25 Jahren, zur Schulzeit, hielten wir – ein kleiner eingeschworener Kreis von Freunden – Ausschau danach, wie wir die Welt um uns herum zum Besseren wenden können. Wir waren eine Gruppe junger Menschen voll Tatendrang.
Nachdem wir mit Spraydosen, Flugblättern und aufrührenden Kunstaktionen für einige Unruhe im öffentlichen Raum gesorgt hatten, versicherten wir uns auch über den gemeinsamen weiteren Weg. Wir fürchteten über kurz oder lang der gleichen Leblosigkeit anheim zu fallen, von der schon so viele der Lehrer, Erwachsenen und Mitschüler um uns herum infiziert waren, und suchten nach einem Schutzmechanismus. Einem Warnsystem, das uns zumindest unhintergehbar deutlich macht, dass die Grenze überschritten wird. Denn das ahnten wir bereits damals: Es bedarf einer ständigen Wachheit, in Wahrheit zu leben. Und wir schworen, einander unmissverständlich zu sagen, wenn wir wahrnehmen sollten, dass ein Freund vom Weg abkommt. Dabei konnten wir noch nicht mal genau sagen, was dieser Weg ist oder welche Merkmale das Abweichen auszeichnet. Es war eher eine diffuse Ahnung, die darin gründete, einer beherzt anteilnehmenden Lebendigkeit verpflichtet zu sein.
Bis heute verblüfft mich, wie nah wir uns damals an den Kern menschlichen Seins, an das Wesen unserer Menschlichkeit herangewagt haben.
Denn wenn wir wahrhaft leben wollen, führt kein Weg daran vorbei: Wir können allein darauf vertrauen, wie sicher uns unsere Intuition zu leiten vermag. Wir wissen, wann wir maßlos, ungerecht oder leblos sind. Unsere Intuition erlaubt uns stets, zu ahnen wo wir stehen - vorausgesetzt wir lassen zu, dieser leisen Stimme in uns lauschen. Sie ist nicht laut, es bedarf durchaus der Übung, ihr Gehör zu verschaffen. Aber wenn wir sie einmal erkannt haben, ist sie ein sicherer Kompass, der uns zu geleiten vermag.
Wenn es uns gelingt, einander zu warnen dass die Grenze überschritten ist, üben wir uns in der hohen Meisterschaft freundschaftlichen Seins. Es ist für mich bis heute der größte Beweis wahrer Freundschaft, wenn wir zueinander vom Überschreiten der Grenze sprechen können.
Das gleiche gilt für mich, wenn wir politisch oder wirtschaftlich handeln.
Wenn ich früher in Umwelt- oder Friedensfragen mit meinen Flugblättern und Botschaften in der Fussgängerzone stand oder wenn ich auf einer Demonstration mitgelaufen bin, war mir immer ein wenig mulmig. Mein Handeln sprach von den richtigen Dingen, aber es war so belehrend – meinen Taten fehlte einfach die freundschaftliche Komponente. In politischen und gesellschaftlichen Fragen gelten die gleichen Grundsätze, denen ich bereits im Freundeskreis begegnet bin: Es ist von zentraler Bedeutung, in einer mitfühlenden und achtsamen Form von unseren Grenzen sprechen.
Eine Gruppe von Freunden, die sich freundlich aber ohne Umschweife sagt, wenn etwas schiefläuft – es geht um genau das!
Doch es gibt auch die andere Seite des freundschaftlichen Dialogs: Wir können einander sagen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Und das ist mindestens genauso wertvoll.