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Standardeinstellungen moderner Lebenswelten

Segen der Elektrizität       Foto © riot jane/flickr

“Standardeinstellungen” bezeichnen in der Informatik die grundlegende Art, in der ein Computersystem eingerichtet wurde. Sie gelten, solange man sich nicht entscheidet, spezifische Veränderungen vorzunehmen. Übertragen auf unsere täglichen Leben könnte man sagen, dass fließendes Wasser, Toiletten mit Wasserspülung, elektrisches Licht, Gasherde und Telefone allesamt Teil unserer eigenen Standardeinstellungen sind.

Als eine chinesische Frau eines gewissen Alters habe ich noch ein Leben ohne diese Art von Standardeinstellungen erfahren. Als ich so alt war wie meine Tochter, gab es fließendes Wasser nur für vier Stunden am Tag – zwei Stunden am Morgen und zwei Stunden am Abend. Das Wasser wurde in Eimern gesammelt, damit es auch tagsüber zur Verfügung stand. Meine Mutter pflegte früh aufzustehen und – so lange es Wasser gab – die Wäsche der ganzen Familie zu waschen. Die einzigen elektrischen Gerätschaften die unsere vierköpfige Familie besaß, waren zwei 25 Watt Lampen, zwei 15 Watt Lampen und ein Radio.
Ich war 16 als wir ein Telefon bekamen. Unser Herd wurde zunächst mit Kohlebriketts, dann mit Flüssiggas und schließlich mit Erdgas beheizt. Mein Kindermädchen Xiaohan stammt aus dem ländlichen Raum und noch heute ist ihre Famlie für das Kochen und Heizen auf Feuerholz angewiesen. Ihr Wasser stammt aus einem Brunnen und Toiletten mit Wasserspülung gibt es dort nicht.

Im Laufe der Jahre haben sich all diese Dinge zu den Standardeinstellungen meines eigenen Lebens hinzugesellt: Fernseher, Kühlschrank, Waschmaschine, Klimaanlage, Computer, Dunstabzug, Wasserkühler, Standventilator, Reiskocher und Mikrowellenherd. Meine achtjährige Tochter ist mit diesen Dingen aufgewachsen. Für sie ist es selbstverständlich, dass jede Familie diese Dinge hat und dass sie unverzichtbar sind. Sie kann sich nicht vorstellen, ohne sie zu sein.
Das ist die Modernisierung des Haushaltes. Es scheint, als ob wir erst, wenn wir all diese Dinge haben, ein angesehenes und würdiges Leben führen können.
Doch diese Geräte brauchen alle Strom. In China wird 70% der Elektrizität durch das Verbrennen von Kohle gewonnen. Das verursacht CO2-Emissionen – und Luftverschmutzung.

Ich las einmal eine Geschichte, in der ein Philosoph – der ganz seinen Studien gewidmet ein Leben in weltlicher Abgeschiedenheit lebte – eines Tage auf den Markt geht. Bestürzt sagt er: "Es gibt so viele Dinge hier, die ich nicht gebrauchen kann!"
Eine ganze Zeit lang war ich verwirrt: Warum sollte der Philosoph so bestürzt sein? Doch jetzt verstehe ich, dass seine Betroffenheit aus der großen Kluft erwächst, die zwischen seinen eigenen Standardeinstellungen und dem besteht, was in der Gesellschaft als normal angesehen wird.

Zum Beispiel duschen: Vor dreißig Jahren ging mein Vater – ein Arzt – für zwei Jahre im Rahmen der Tibet-Hilfskampagne nach Tibet. In diesen zwei Jahren hat er sich nur zweimal gewaschen. Das erste Mal, als er ankam, und das zweite Mal, als er ging. Er erzählte mir, dass sich Menschen im Norden Tibets in ihrem gesamten Leben nur zweimal waschen. Einmal, wenn sie heiraten, und einmal kurz bevor sie sterben.
Die Schriftstellerin Sanmao beschreibt ebenfalls, wie einige Völker, die in der Sahara-Wüste leben, sich nur einmal im Jahr waschen, und diese Reinigung hat den Charakter einer feierlichen Zeremonie. In Xiaohans Dorf im Nordosten Chinas pflegten sich die Menschen nur dann zu waschen, wenn die Jahreszeiten wechselten. Nun gehen sie jeden Monat in ein Badehaus in der nächstgelegenen Stadt. Im Gegensatz dazu verbringen die Menschen der Dai-Volksgruppe in Yunnan ihr Leben in der Nähe des Wassers und bestreiten auch ihr Einkommen aus entsprechenden Tätigkeiten. Für sie ist duschen ganz gewöhnlich.
Die unterschiedlichen Völker waschen sich entsprechend der klimatischen Bedingungen unter denen sie leben. Wie sie sich waschen, wo sie sich waschen und wie oft sie sich waschen ergibt sich aus den Besonderheiten der regionalen Umgebung und ist seit tausenden von Jahren ein Teil ihrer Kultur.
Im modernen städtisch geprägten Leben hat sich das Waschen komplett von den regionalen Begebenheiten entkoppelt. Es wurde zu einer der Zeremonien und Symbole modernen Lebens. Bis zu der Zeit, da ich meinen Universitätsabschluss absolvierte, wusch ich mich nur einmal pro Woche. Doch jetzt habe ich mich nach und nach daran gewöhnt, mich täglich zu waschen, und es als eine Notwendigkeit, ja sogar ein Bedürfnis, zu betrachten.

Wir, die wir in unseren modernen Gesellschaften leben, genießen in aller Ruhe die diversen Annehmlichkeiten des modernen Lebens und sind dazu übergegangen, sie ganz und gar als selbstverständlich zu betrachten; sie sind zu unseren Standardeinstellungen geworden. Nur sehr selten halten wir inne um uns zu fragen: Brauche ich wirklich einen Kühlschrank? Brauche ich wirklich eine Klimaanlage? Brauche ich wirklich ein Auto? Muß ich wirklich jeden Tag duschen? Muß ich wirklich jeden Tag die Kleidung wechseln?
Wann immer moderne Technologie uns eine neue Möglichkeit beschert, lernen wir schnell sie als eine Notwendigkeit zu betrachten, und sie wird zu einer Standardeinstellung. Der Vorgang beschleunigt sich zunehmend und unser Konsum ist zu etwas geworden, das wir nur als recht und billig ansehen.

Aber ist es wirklich recht und billig?

Ich habe noch immer einige vage Erinnerungen an die Details meiner Kindheit. Zu jener Zeit pflegten die Menschen gebrauchte Getränkedosen aufzuschneiden und den Boden als Aschenbecher oder Vasen zu benutzen. Die Bänder, mit den die Pakete verschnürt waren, wurden gesammelt und zusammengenäht, um daraus Taschen zu machen. Die Tasche, mit der ich damals auf den Markt ging, war in dieser Art und Weise hergestellt. Die Menschen reihten auch alte Kalender und Zigarettenschachteln auf Schnüre und verwandelten sie so in Vorhänge. Niemand schaute auf diese Objekte herab, weil sie billig hergestellt waren. Im Gegenteil, einige von ihnen waren sehr sachkundig gefertigt und hatten durchaus den Charakter kleiner Kunstwerke.
Dinge dieser Art verschwinden nun aus unseren Leben. Heute sind mehr und mehr wunderschöne Produkte verfügbar, und mehr Einweg- und Wegwerfprodukte. Das hat in uns die Kauflust geweckt, doch zugleich haben wir die Freuden verloren, die uns diese wunderbaren hausgemachten Dinge gebracht haben.
Irgendwann sah ich in einem Kunsthandwerk-Laden einen Vorhang. Er war so gemacht, dass er an diese altertümlichen handgemachten Vorhänge erinnerte. Er bestand jedoch nicht aus wiederbelebten Objekten, sondern war aus neuen Materialien hergestellt und hatte so seine Wirkung verloren. 

Manchmal denke ich an all dieses farbige Altpapier, das wir fortwerfen – das wäre ein ideales Material für derartige Objekte. Wie auch immer, es scheint, dass niemand mehr in diesem Sinne über Wiederverwendung nachdenkt.

Das ist die moderne Gesellschaft, ein Lebensstil, der sich um Konsum dreht – materielle Befriedigung ist sein höchstes Ziel. Die Schwierigkeit besteht darin, dass technologische Errungenschaften, wenn sie zu einer Standardeinstellung in unserem Leben werden, uns nicht länger Glück und Erfüllung bringen. Im Gegenteil, die Nichtverfügbarkeit dieser Standards vermag uns sogar unglücklich zu machen. Diese Art von Lebensstil führt zu immer höheren Standard-Niveaus und einem immer stärker anwachsenden Bedürfnis, zu konsumieren.

Wenn die Ressourcen, die diese Verbrauchskultur ermöglichen, zur Neige gehen und die Umwelt der Beanspruchung nicht mehr standhalten kann, wird es zu spät sein, diese Standardeinstellungen zu beenden. Es ist viel einfacher, sich von der Einfachheit zur Verschwendungssucht zu bewegen, als vom Luxus zur Einfachheit. Das war schon immer so.

Dieser Artikel von Yu Aiqun wurde erstmals auf der ehemaligen Website »China Dialogue« unter dem Titel »Default settings and modern lifestyles« veröffentlicht. Yu Aiqun arbeitet als Journalistin für das chinesische Staatsfernsehen CCTV. Übersetzung: Dirk Henn.