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Digitale Kompetenz

Überlebensstrategien im Zeitalter der Bits und Bites

Kommunikation analog

Kommunikation analog       Foto © luxuz::./photocase

Informationsstress ist ein wichtiges Thema, wichtiger als je zuvor – die Bits haben Einzug in unser Leben gehalten. Vor zehn Jahren hat es die US-Bürger vielleicht beunruhigt, wenn sich bei ihnen zuhause Berge von Zeitschriften und Zeitungen auftürmten. Doch heute, da sich in allen Bereichen unseres Lebens die Bits ausbreiten, wird aus der Beunruhigung Angst. E-Mails, Webseiten, Newsletter, Chatrooms, E-Mails, SMS und noch mehr E-Mails – all diese Ströme von Bits können uns aus dem, was wir gerade tun, herausreißen und auf Trab halten – überall und immer. Geräte, die diese Bits bereithalten, wachsen wie Pilze aus dem Boden: Smartphones und Handys tragen die Bits an uns heran, auch dann, wenn wir gerade nicht vor dem Computer sitzen.

Für all jene, die einen Computer oder ein Smartphone besitzen, gibt es kaum ein Entkommen vor den Bits. Auch wenn wir die Geräte ausschalten, türmen sich die Bits in aller Stille auf, bereit uns in bedrohlicher Weise zu überschwemmen, sobald wir zu dem Gerät zurückkehren. Wenn wir versuchen, den Bits zu entfliehen,, macht das die ganze Sache womöglich nur noch schlimmer. Mach mal eine Woche lang Urlaub, ohne E-Mails. Wenn du wiederkommst erwartet dich in deinem Mailprogramm ein aufgeblähter Eingangskorb – mit der siebenfachen Menge der Bits, die dich üblicherweise empfängt.

Und dies ist erst der Anfang der Explosion digitaler Informationen. Eine Studie hat kürzlich vorausgesagt, dass sich in ein paar Jahren die Zahl der E-Mails, die wir jeden Tag bekommen, auf das Vierzigfache des gegenwärtigen Umfanges vermehren wird. Das sind eine Menge aufmerksamkeitsbeanspruchener Bits – und hier geht es nur um die E-Mails. Es ist anzunehmen, dass weitere neue Geräte und Bitströme den ganz gewöhnlichen US-Bürger mit einem exponentiell anwachsenden Berg von Informationen bedrohen wird.

Für das Problem der nahezu unendlichen Bit-Fülle gibt es jedoch eine Lösung. Die Lösung liegt in dem, was ich "Bitkompetenz" nenne. Bitkompetenz umschreibt unsere Fähigkeit, der Bits gewahr zu werden und bewusst wahrzunehmen was Bits sind, wie sie sich auf unser Leben auswirken und wie wir in einer Gesellschaft überleben können, die von Bits durchdrungen wird. Mit Hilfe dieses Gewahrseins können bitkompetente Menschen die Bits kontrollieren, anstatt von Bits kontrolliert zu werden, die zum Dreh- und Angelpunkt unseres Lebens und unserer Arbeit werden.

Bitkompetenz ist ein einfaches Konzept. Auf den Punkt gebracht ermöglicht sie uns, das wir uns unserer Leben wieder bemächtigen, frei von Informationsangst – obschon wir inmitten der Bits leben und nach wie vor von ihnen umgeben sind.

Das Konzept in vier Worten: Lass die Bits los.

Genau, halte dich nicht an den Bits fest. Sammele keine Bits. Versuch nicht, sie zu beschaffen, und mach dir keine Sorgen darum, Bits zu bekommen, denn sie kommen zu dir. Bits berühren unsere Leben an so vielen Stellen, dass man ihnen unmöglich entkommen kann, und es wäre verrückt zu versuchen, sie alle anzusammeln.
Bitkompentenz bedeutet demgegenüber, ohne Unterlaß daran zu arbeiten, von so viele Bit als möglich abzulassen.
Bitkompetenz erlaubt uns, einen Pfad der Leere durch den Dschungel der Bits freizulegen, die uns umgeben und ablenken. Die Leere erschließt uns das Sehvermögen.

Hier ein Beispiel aus dem wirklichen Leben: Vor kurzem habe ich eine Website besucht, die eine Vielzahl von E-Mail-Newslettern bereitstellt – mit Informationen von angesehenen Unternehmen über alle erdenklichen Themen. Internetnachrichten, Sportkommentare, Klatsch aus der Unterhaltungsbranche – all das stand mir per Mausklick zur Verfügung. Ich konnte all diese Informationen bekommen, wöchentlich per E-Mail frei Haus – und das natürlich kostenlos! Und anders als bei abonnierten Zeitungen oder Zeitschriften, die auf Papier hergestellt wurden, würden diese Bits nicht in meiner Wohnung herumliegen und später ins Altpapier wandern. (Ich habe mich nicht eingetragen. Ich hatte die Seite besucht, um einen Newsletter abzumelden.)

Man könnte also vernünftigerweise fragen, worin denn das Problem besteht, wenn man ein paar potentiell wertvolle oder unterhaltsame Bits bekommt, da sie ja nicht meinen Lebensraum verstopfen, mich nicht mit ihrem Gewicht belasten und zudem keinen Pfennig kosten?

Das Problem ist, dass die Bits sich anders als papierbasierte Informationen verhalten. Bits sprechen einen eher an, sie „ziehen einen eher hinein“, sind unmittelbarer, persönlicher und sie sind in einer schieren Überfülle verfügbar.
Inmitten eines Mittagessens mit einem Freund werden wir zum Beispiel von Bits unterbrochen – vielleicht von einer Mitteilung zum Börsenverlauf – und instinktiv greifen wir nach unserem Handy, um zu sehen, was es ist. Oder wir setzen uns hin, um "ein paar Mails zu lesen" und hauen uns zwei Stunden um die Ohren, als wären es zwanzig Minuten.
Wie die Zeitschriften und andere beunruhigende Informationen beanspruchen Bits unsere Aufmerksamkeit – aber sie verlangen sie mit mehr Nachdruck, verführerischer, häufiger und in weitaus mehr Lebensbereichen.

Diese grundlegend anderen Eigenschaften der Bits bedeuten, dass wir auf radikal neuen Wegen mit ihnen umgehen müssen. Bitkompetenz ist radikal in seinem grundlegenden Ablassen von Bits.
Wir können uns nicht von allen Bits verabschieden – wir müssen uns erst auf sie einlassen und können naheliegenderweise erst dann die wenigen wichtigsten Bits retten – aber unser Grundverhalten muss sein, sie loszulassen, anstatt sie zu sammeln und aufzubewahren.

Hier ein paar Möglichkeiten, wie du die Bits loslassen kannst: Halte dein E-Mail-Eingangsfach leer, indem du deine Mails löscht, sobald du die wenigen andernorts gesichert hast, die du für eine spätere Verwendung aufbewahren musst. Legt für Euch fest, wann und von wem Ihr euch via Handy oder Smartphone unterbrechen lasst, sodass die Unterbrechungen, die dich erreichen, auch wirklich wichtige Gründe haben. Und erschliesse ganz sicher keine neue Art von Bitstrom – einen Newsletter, aktuelle Newsservices oder andere permanente Feeds – es sei denn, es ist von vitalem Interesse für dich. Konzentriere dich vielmehr darauf, von den Bits abzulassen, die zu dir gelangen. Die wenigen übrig bleibenden Bits werden dann um so wertvoller für dich sein.

Ich möchte diesen letzten Satz hervorheben: Wenn ein Mensch Bitkompetenz erlangt, ist das, was nach dem Ablassen übrig bleibt, wertvoll, das heißt bedeutungsvoll. Denn – und das ist der Witz der ganzen Sache – die Bits an sich sind nicht bedeutungsvoll. Bits sind nur Hinweise auf Bedeutungen, nur Behälter von Gedanken, nur Phantombilder dessen, worum es eigentlich geht. Die Bedeutung ist das, was hinter den Bits liegt, was die Bits treibt. In ihrer Überfülle, unser Bewusstsein überschwemmend und überwältigend, verdunkeln Bits gerade die Bedeutungen, von denen sie erzeugt wurden. Erst auf dem Pfad der Leere gelangen wir zum Sinn hinter den Bits.

Dies ist wahre Bitkompetenz: Die Bits an sich vorüberziehen zu lassen, sie loszulassen, um dann bei der Bedeutung hinter den Bits anzukommen. Ein beliebtes Beispiel ist das E-Mail-Eingangsfach eines Angestellten, das sich mit Mails zu zahlreichen Projekten füllt. Das Problem liegt nicht in erster Linie in der Zahl der Mails, die in seinem Fach landen. Das Problem liegt in der Anzahl der Projekte, mit denen er befasst ist. Die Bedeutung der Bits besteht nicht in den Bits an sich, sondern in dem, worauf sie hindeuten: In diesem Fall ist es an der Zeit, sich auf weniger Projekte einzulassen.

Bitkompetenz fügt sich in einzigartiger Weise in diesen Moment der Geschichte ein. Bislang brauchten wir Bitkompetenz nicht zu entwickeln, denn Bits waren bis vor kurzem weder zahlreich noch fordernd. Noch vor zehn Jahren erreichten uns Bits über die "Benutzeroberfläche" eines„PCs“. Hier waren die Bits quasi abgefüllt, portioniert; sie konnten uns nur berühren, solange wir vor dem Monitor saßen. Und es gab so wenige Bits, dass wir jedem einzelnen die individuelle Aufmerksamkeit schenken konnten, die es verlangte. Heute und noch mehr noch in ein paar Jahren, erreichen uns die Bits auch, wenn wir den Bildschirm verlassen. An jeder Straßenecke, in jedem Restaurant, in jedem Haus, während wir essen, während wir schlafen, die Bits häufen sich an. Es ist, als würden sie nach uns rufen.

Wenn wir uns in Zukunft angesichts der zahllosen Bits einen Lebensraum erhalten wollen, so brauchen wir weitreichende Bitkompetenz: In unserem Verhalten (von Bits ablassen), in unseren Annahmen und Glaubensvorstellungen (nach der Bedeutung hinter den Bits suchen) und in unserer Technologie – mithilfe möglichst einfacher Werkzeuge, die uns Kontrolle über die Bits gewähren im direkten Zugriff auf Bits in ihren möglichst einfachen Formen. Und indem wir den Schwerpunkt darauf verlagern, nicht nur Konsumenten sondern Erzeuger von Bits zu werden, wird uns das neue Wissensfeld der Bitkompetenz den Weg weisen, wie wir Bits auch anders herstellen können: achtsam, bedeutungsvoll und allzeit ihrer essentiellen Leere gewahr.

Ich freue mich sehr diesen bahnbrechenden Aufsatz von Mark Hurst hier erstmals in deutscher Sprache vorstellen zu können. Er hat seinerzeit eine Menge in Bewegung gebracht und er stammt, man glaubt es kaum, aus dem Mai 2000! Das amerikanische Original des Artikels findet ihr auf der Website goodexperience.com unter dem Titel Bit literacy: an overview. Mark Hurst hat April 2007 ein Buch zum Thema herausgebracht (in englischer Sprache). Übersetzung: Peter Brandenburg & Dirk Henn.